Critchzauber ist eine Sünde gegen den Märtyrer!

Von einer viktorianisch-steampunkig anmutenden Fantasy-Welt, bevölkert von Faunen, Feen voller dunkler Magie, Machtspielen und Krieg erzählt die Amazon-Serie Carnival Row.

Auf das Dichteste gedrängt spiegelt sie aber auch einige der größten Probleme, mit denen wir heute konfrontiert sind, wider. Der Umgang mit Flüchtlingen, Rassismus, Rechtspopulismus, religiöser Fanatismus ziehen sich als roter Faden durch die Geschichte und führen am Ende der Staffel an einen Ort, den ich nur als „Ghetto“ bezeichnen kann. Nur der Klimawandel ist noch nicht thematisiert, auch wenn mit der (verlorenen) Welt der Feen und Faune das letzte Stückchen Grün aus der Serie verschwunden zu sein scheint.

Für alte Hasen der Fantasy fühlt sich diese massive Allegorie für alles, was schief gehen kann in einer Gesellschaft, ein bisschen zu offensichtlich und bemerkenswert geballt an. Für Neueinsteiger und solche, die es eilig haben, könnte das aber ein wirkungsvolles Format sein.

Ich habe mich auf diese Achterbahn durch diese fantastische Welt einfach eingelassen und acht Folgen lang schöne Bilder gesehen, einige Liebesgeschichten verfolgt und einen netten Krimiplot genossen.

Bei so einem dichtgepackten Paket an mir vorgehaltenen Spiegeln darf natürlich auch die Religion nicht fehlen. Während die Die Feen eine nicht näher beschriebene Art von Natur-Magie, mal hell mal dunkel betreiben (natürlich), bezieht sich das menschliche Establishment auch nicht sehr ausdefiniert auf einen Märtyrer und hält Critchzauber (natürlich) für Sünde.

Auch der respektlose Umgang mit den Heiligtümern der „Verlierer-Kultur“ wird thematisiert in Form einer Ausstellung mit Gegenständen, die aus der Feenwelt geraubt wurden.

Der Märtyrer, auf den sich die Menschen berufen, wird als Antwort auf unser Kruzifix als Erhängter dargestellt, mit auf dem Rücken gefesselten Händen. Passend dazu trägt der Klerus anscheinend eine Schlinge um den Hals. Das Fluchwort dazu: „God‘s Noose“ (Gottes Schlinge)

Ja, passt. Es passt zu all den anderen offensichtlichen Hinweisen darauf, wie es in unserer Welt läuft. Ich habe mich in meiner Welt an das Kreuz mit Korpus gewöhnt, schließlich ist es unentwirrbar mit westlicher Kunstgeschichte verwoben. Für jemanden, der nichts über das Christentum weiß, ist so ein Kreuz mit Korpus vermutlich nichts anderes als die Darstellung eines brutalen Todes. Das Opfer von Folterung an die Wände von Kinderheimen und Schulen zu hängen, könnte also ein Problem sein, auf das hier aufmerksam gemacht wird.

Da in Carnival Row bisher keine tiefgreifende Religionskritik betrieben wird, sondern nur auf die Auswirkung dieser religiösen Haltung hingewiesen wird, kann ich dazu genauso nicken, wie zu all der anderen Gesellschaftskritik, die in der Serie vorkommt.

Beim Surfen über den Märtyrer aus der Carnival Row habe ich dann auch festgestellt, dass – auch wenn ich das Gefühl habe, dass dieses Thema schon oft behandelt wurde – es einer neuen Generation von Fantasy-Liebhabern auch ganz neu dieses Aha-Erlebnis verschaffen kann: Fantasy ist nicht unbedingt Flucht in eine andere Welt, die mit unserer Welt nichts zu tun hat, die beste Fantasy (finde ich) hat einen Spiegel in der Hand.

„Als ich den erhängten Gott in dieser Show sah, hat sich mein Blick auf Jesus am Kreuz wirklich verändert. Ich meine, es schockierte mich, wie ähnlich er Jesus war, und auch, wie unwohl ich mich dabei fühlte. Sicherlich ein echter Augenöffner …“
„Es war seltsam und unheimlich für mich, aber dann wurde mir klar, dass wir Katholiken Jesus Christus am Kreuz haben. Manchmal ganz blutig!“

Reddit: The imagery of The Martyr is unsettling

Der Spiegel, mit dem Carnival Row daherkommt, ist schon arg groß, vergrößernd, teilweise frei von Raffinesse, aber vielleicht ist es genau der Spiegel, den unsere Zeit braucht, ein Spiegel, der an Deutlichkeit nichts vermissen lässt.

Ein bisschen verzerrt und damit interessanter wird die Oberfläche des Spiegels schließlich doch noch mit einer Prozession von Faunen, die als Flagellanten durch die Stadt ziehen und den „Hidden One” anrufen, weil sie scheinbar einer Sekte angehören, von der wir auch nach acht Folgen noch nicht viel wissen, außer dass sie fanatisch sind, und zu Attentaten bereit.

(Achtung Spoiler! Dass die dunkelsten Zauber (natürlich) nicht von Feen, sondern Menschen ausgeführt werden, ist hingegen schon wieder Klischee.)

Ich freue mich auf die zweite Staffel. Vielleicht werden einzelne Aspekte der Religionen ja noch ein bisschen weiter ausgebaut. Vielleicht gibt es ja noch mehr von der Welt zu sehen, die wirklich schöne Bilder zu bieten hat, allein dafür hat sich das Gucken gelohnt.

NL

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