Unter der Haube

– ein Plädoyer für Freiheit auf dem Kopf und anderswo

„Ertragt einer den andern in Liebe“ (Epheser 4,2).

Das Lutherjahr war spannend. Viele tolle Projekte und Veranstaltungen wurden organisiert, Kooperationen sind entstanden. Von unseren Lutherspielen, für die um die 50 Gewandungen entstanden sind, habe ich hier berichtet:

Ich bin im Lutherjahr viel als „Frau Luther“ unterwegs gewesen, habe aus Katharinas Sicht über die Reformation gesprochen und vom Privatleben der Luthers erzählt. Das habe ich, als Vollblutlarperin, natürlich in passender Gewandung getan. Unterkleid, Kittel und Kleid aus alten Bettlaken und Vorhangresten sind mir in dieser Zeit sehr vertraute Kleidungsstücke geworden. Ein wichtiger Teil der Kleidung einer zur Renaissancezeit in Mitteleuropa lebenden Frau war die Haube. Bei Frau Luther war es die sogenannte „Wulsthaube“, auf Gemälden von Dürer und Cranach sieht man sie oft. 
Über eine Unterkonstruktion, die die Wulst auf dem Hinterkopf bildet, kommt der sogenannte Schleier, letztendlich ein Kopftuch, das auf verschiedene Arten gebunden und festgesteckt werden kann. Wie unterschiedlich zu Frau Luthers Zeiten diese Hauben getragen und die Schleier gebunden werden konnten (ganz zu schweigen vom Steuchlein) wird hier gezeigt:

Ich, mit meinem Faible für historische und fantastische Gewandungen, hatte viel Spaß dabei, über dieses Kleidungsstück zu recherchieren und meinen persönlichen Stil beim Tragen zu entwickeln. 

Eine Überraschung zum Thema Wulsthaube erlebte ich mit einer Runde älterer Damen, denen ich mit großer Begeisterung von meinen Vorbereitungen für das Lutherjahr und meinen Gewand-Recherchen erzählt habe. Während sie meinem Vortrag „Was die Lutherin drunter trug“ mit viel Amüsement folgten, solange ich über historische Methoden redete, die weibliche Brust in Form zu bringen, kam es beim Thema Haube zu recht emotionalen Diskussionen. Ist so eine Haube wirklich nur ein Kleidungsstück oder nicht gar ein Zeichen der Unterdrückung der Frau, die ihr Haupt bedecken muss? War die Haube der Katharina von Bora modisches Accessoire oder religiöses Erkennungszeichen? 
Fragen, die sich Frau von Bora so vermutlich nie gestellt hat. Für sie war die Haube ein selbstverständliches Element ihrer täglichen Bekleidung. Solche Fragen werden durch unsere moderne Sicht und die Diskussion über die Kopfbedeckungen muslimischer Frauen in unserer Gesellschaft erst aufgebracht. Mit unbedecktem Kopf das Haus zu verlassen, wäre Katharina und ihren Zeitgenossinnen im Traum nicht eingefallen. Schließlich war die Haube auch Erkennungszeichen ihres Status als verheiratete Frau. Hätte sie jemand aufgefordert, diese Haube wegzulassen, wäre sie sicher sehr empört gewesen.

Die Kolleginnen und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen, die bei den Lutherspielen dabei waren, waren oft erst mal irritiert, dass zu dem „Kostüm“ nicht nur ein Unterkleid und ein Obergewand gehören, sondern auch eine Haube, die Haare und Ohren komplett bedeckt. Ob das denn wirklich nötig sei? Nervig fanden einige anfangs dieses „blöde Ding“, ungewohnt, fremd. Ich musste Überzeugungsarbeit leisten, dass die Haube den Look erst vollständig macht. Schließlich wollten wir ein bisschen „Wittenberg vor 500 Jahren-Feeling“ erzeugen. Nach und nach entdeckten sie auch Vorteile der Haube. Als mir beim Ankleiden jemand sagte: „Ich habe mir die Haare heute nicht gewaschen, du hast doch sicher so eine Haube für mich, dann sieht das ja eh keiner mehr“ war ich amüsiert. Als die Kolleginnen mir nach dem Kirchentag erzählten, dass sie froh über die kompletten Outfits gewesen wären, Hauben inklusive, weil der Austragungsort für die Lutherspiele so unpassend gewesen sei und nur die Kleidung der Darsteller für Flair gesorgt hätte, habe ich mich ehrlich gefreut. Da hat mein nerdiger Fimmel für möglichst authentische Kleidung mal was genutzt.

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Zu Luthers Zeiten passierte ein Umbruch: Adelige und reiche Frauen begannen mit Haarnetz und dem Tragen von Männerhüten zu experimentieren. Kopftuch und Haube verschwanden mehr und mehr in unseren Breitengraden und wurden nur noch in Trachten zu einer Erinnerung. Aber noch in den 50er Jahren war für Damen das Tragen eines Hutes zu offiziellen Anlässen eine Selbstverständlichkeit. In den letzten Jahrzehnten erst haben wir uns den – außer bei großer Kälte – unbekleideten Kopf angewöhnt. Schade eigentlich, finde ich. Zumal ich, wenn ich denn beschließe mein Haupt zu bedecken, in der Öffentlichkeit seltsam angesehen werde. Ich könnte gar nicht mehr mit einer Wulsthaube herumlaufen ohne aufzufallen.

In unserer christlich-muslimischen Frauengruppe fragte ich, wie die muslimischen Frauen ihr „Kopftuch“ eigentlich anziehen und da zeigte sich der fast identische Aufbau: Eine Unterhaube, natürlich ohne Wulst, und darüber das Tuch, der Hijab.  Selbst die Nadeln, die auch unsere Vorfahrinnen verwendeten, um ihren Schleier festzustecken, sah ich beim Legen des Hijab wieder. Dass mich jemand unter den Schleier blicken ließ, war eine sehr fröhliche und auch irgendwie intime Situation, wie sie nur unter Frauen passieren kann. Ob eine Verwandtschaft besteht zwischen Haube und Hijab oder ob es einfach eine natürliche Methode ist, den Kopf zu schmücken, weiß ich nicht. Fremd jedenfalls ist diese Kopfbedeckung für unsere Kultur nicht, allenfalls altmodisch.
Beim Gemeindefest zum Thema Reformation stand ich dann mit Ayşe an einem Stand, ich in meinem Lutherin-Gewand, sie in ihrer Alltagskleidung. Da war ein Gefühl von gegenseitigem Verständnis, dass ich ohne meine Hauben-Erfahrungen vielleicht nicht für die Kleidung muslimischer Frauen entwickelt hätte. Für mich ist die Wulsthaube zwar (Ver)kleidung, aber ohne Haube würde ich nicht zu Katharina Luther. Die Haube ist Teil des Kleides, das Leute macht.

Ich habe Gefallen daran gefunden auch meinen Kopf einzukleiden. Nerdfrau und Nerd, gerade wenn sie Larper sind, mögen oft besondere optische Features. Haarlänge, Tätowierungen, Schmuck, vielleicht mögen wir auch im Alltag ein wenig das Flair von Steampunk, Fantasy oder Historie über unser Aussehen mit uns herumtragen. Es gehört zu uns, hilft unsere Identität zu beschreiben.

Wie schön wäre es, wenn wir einfach tragen könnten, was uns gefällt, und was zu unserer Identität gehört, ob Wulsthaube, ob Hijab, ohne dass andere daran Anstoß nehmen. Wie muss es den muslimischen Frauen gehen, denen, wie Frau Luther damals, ihre Kopfbedeckung eine Selbstverständlichkeit ist, ohne die sie niemals das Haus verlassen würden, welche ihr Umfeld aber manchmal so gar nicht selbstverständlich finden mag. Ob es für sie gar auch Teil ihrer freien Religionsausübung ist, das sollte ohnehin nicht von außen hinterfragt werden.

„Ertragt einer den andern in Liebe“, auch wenn das Gegenüber aus eurer Sicht seltsame Dinge auf dem Kopf tragen sollte. Interessiert euch lieber für das, was in diesen Köpfen vor sich geht. Darauf gibt das „Auf dem Kopf“ allenfalls einen ersten Hinweis.

Natascha Luther (Ja, so heiße ich wirklich)

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