Zerrissenheit II

In der Jugendarbeit unserer Kirche zu arbeiten, ist für mich manchmal ein Scheitern. Ein immerwährendes Scheitern daran, was ich als richtig und gut erachte.
In der Welt der Fantasy, in deren Bücher ich mich so gerne „flüchte“, ist es immer klar: Der Gute ist eben der Gute, der Böse wird vernichtet. Mordor ist kein Urlaubsparadies, das Auenland schon. Orks sind böse, Elben gut. Das Haus Stark kämpft auf der richtigen Seite, das Haus Lennister nicht.
Was hier richtig und falsch ist, ist klar. Wenige Fantasyromane, die ich lese, leisten sich den Luxus divergenter Helden, unsicherer Zukunftsaussichten, komplexer Motivationen. Da ist das Leben immer klar.
Meine Arbeitswelt ist da anders – und ich arbeite für die Kirche. Die Systeme, in denen ich agiere, sind extrem komplex.

Das fängt an bei der direkten Arbeit mit Kindern und Jugendlichen: Was ist der rechte Weg? Die Orientierung an den Wünschen und Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen, so wie diese sie selbst äußern, oder der Wunsch, ihnen das Evangelium nahezubringen? Diakonie oder Mission? Arbeit mit Kindern aus prekären Milieus in den offenen Türen oder mit gutbürgerlichen Kindern im Rahmen von Gemeinde und Verbänden? Schickt mich Jesus zu den Menschen am Rande der Gesellschaft (Lk 10,25ff./Mk 10,17ff.), oder soll ich Maria sein, die nicht ihrer Schwester bei der Hausarbeit hilft, sondern nur auf Jesu Wort hört (Lk 10,28ff.)?

Und dann geht es über diese Arbeit hinaus: Sollen wir die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen auch als Teil der Zukunft unserer Gesellschaft betrachten oder als Teil der Zukunft unserer Kirche? Wollen wir Kraft und Energie einsetzen um politisch die Situation von Kindern und Jugendlichen zu verbessern, oder wenden wir uns jedem einzelnen Kind und Jugendlichen direkt zu? Wohin fließt am Ende welches Geld?
Und wo stehe ich dann in der Kirche? Was ist diese Kirche? Die Gemeinschaft der Glaubenden oder das strukturierte Verwaltungssystem? Spreche ich also vom Gebetskreis vor Ort, wo jeder mitreden kann und darf, wenn ich „Kirche“ sage, oder sehe ich die Institution, die Theologie-Studiengänge und Ausbildung von Fachpersonal ermöglicht? Akzeptiere ich, dass die Arbeit vor Ort eines finanziellen Überbaus bedarf, oder stehe ich im Widerspruch zu diesem ganzen System?

Gut, wenn klar ist, vor was man sich zu fürchten hat …

Auf Live-Rollenspielen kann ich all das für ein Wochenende hinter mir lassen. Dann tauche ich ein in die Welt der Fantasy. Wenn dich ein Ork mit einem Schwert angreift, darfst du ihn töten. Schwarzmagier sind böse. Ritter in Plattenrüstungen gehören zu den Guten, auch wenn sie arrogant und überheblich sind. Und am Ende trifft man sich in der Taverne und besingt die eigenen Erfolge.

Manchmal, nur manchmal wünschte ich mir es im echten Leben auch so einfach. Ich fühle mich gefangen in widersprüchlicher Empathie, die in komplexen Systemen für unterschiedliche Gruppen auftaucht. Manchmal wünsche ich mir Klarheit, Einfachheit und Struktur.

Und dann schrecke ich zusammen und atme tief durch. Ja, verdammt, das Leben ist nun mal nicht leicht, einfach und geradlinig. Und jeder Wunsch, es so zu betrachten, schließt Menschen aus. Diejenigen mit den einfachen und klaren Antworten, die mir sagen so ist das und nicht anders, schrecken mich ab. Sehen sie denn nicht all diejenigen, die dann rausfallen? Welche Partei gibt aktuell die einfachen Antworten? Wer steht auf und sagt: „So ist das und nicht anders!“? Wer will festlegen was wie zu sein hat?

Das Leben und die Menschen sind nun mal so verdammt komplex. Ganz ehrlich, wirklich komplex. Nur mal hier bei uns in Bielefeld: Fragt doch mal die Jugendlichen, welche Musik sie gerne hören und dann versucht eine Party für alle zu schmeißen. Der arme DJ. Wirklich, das meine ich ganz ernst, Menschen sind furchtbar … anders.

Gott ist Mensch geworden und das bedeutet für mich auch, dass er um diese Komplexität des Lebens weiß. Er kennt all diese widerstreitenden Gefühle. Erwartet er also von mir Klarheit und Geradlinigkeit? Oder erwartet er von mir, dass ich allein alle Probleme löse?

Für mich kann ich sagen, dass ich fest daran glaube, dass Gott mich genau deshalb nicht allein auf diese Welt gestellt hat. Sondern in Gemeinschaften. Mit ganz unterschiedlichen Menschen. Auch in der Arbeit. Und dass meine Arbeit nur so zu einem gelingenden Ganzen werden kann. Gemeinsam. Mit Euch.
Amen.
Malte Hausmann