Zerrissenheit

(Kann Spuren von Protestantismus enthalten)

Denn wie der Leib einer ist und hat doch viele Glieder, alle Glieder des Leibes aber, obwohl sie viele sind, doch ein Leib sind: so auch Christus. Denn wir sind durch einen Geist alle zu einem Leib getauft, wir seien Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, und sind alle mit einem Geist getränkt. 1. Kor 12

Wir alle kennen den Text, vermute ich.

Ein Leib, viele Glieder. Heute besteht die Kirche aus Menschen, die ganz unterschiedlichen Traditionen entstammen, mit unterschiedlichen Ausbildungen in ebenso unterschiedlichen Betätigungsfeldern engagiert sind.
Und auch ich stehe mitten in Kirche und Gesellschaft. Und immer wieder merke ich, dass meine Toleranz, mein Verständnis von Zusammengehörigkeit und dem, was nun mal zu dieser Zusammengehörigkeit gehört, auf eine harte Probe gestellt wird.
Meine letzte Zerreißprobe war der 9.11. An diesem Tag mobbten sich wieder die Rechten durch Bielefeld. Ganz ehrlich: Ich lebe hier, ich will das nicht. Ich will auch die nicht. Ich will nicht, dass dieses braune Gedankengut in meiner Stadt sichtbar ist. Ich will nicht, dass die Innenstadt für diese Art der Demonstration abgesperrt wird.

Kann das nicht verboten werden?

Ich will eine offene Gesellschaft, die jeden toleriert. Ich will eine Gesellschaft, die jeden einlädt und willkommen heißt. Ich setze mich für ein friedliches Miteinander in unserer Gesellschaft ein.
Eine Gesellschaft, die jeden toleriert … Also auch die? Die da durch unsere Straßen toben und ihren ewig gestrigen Gedankenmüll verbreiten. Ja, auch die. So sehr es mich zerreißt: Wenn ich eine Gesellschaft will, die alle willkommen heißt, dann kann und darf ich nicht entscheiden, wer zu „allen“ dazugehört.
In dieser Frage zerreißt es mich. Muss ich das wirklich so denken? Kann ich mir nicht im Hinblick auf „Rechtsaussen“ Intoleranz zulegen? Was würde aus mir werden, wenn ich diese Intoleranz zuließe?
(Daß eine Grenze aller Toleranz bei Forderung nach Gewalt und Verbrechen gegen die Menschlichkeit erreicht ist, steht außer Frage. Hier geht es um die, die mitlaufen, weil sie sich eine geordnetere, „sicherere“ Welt wünschen.)
Diese tolerante Haltung und die daraus sich ergebenden Entscheidungen fallen schwer.
Im Star Wars-Epos muss Luke Skywalker seine Entscheidung treffen: Er tötet seinen Vater am Ende eben nicht, um nicht seinen Platz auf der dunklen Seite einzunehmen.
Die gesamte Gesellschaft des Rings im Herrn der Ringe wird gespalten durch die Frage, ob der Ring nicht auch dem Guten dienen kann. Frodo trifft auch am Ende eine Entscheidung: Er will den Ring nicht zerstören, wendet sich ab von der Seite des „Guten“. Und bekommt durch Gollum einen Rivalen, der ihm die Konsequenz dieser Entscheidung und den Ring abnimmt.


Und wie stehe ich in der Kirche da? Wenn es um meinen Glauben und die Frage geht, wie ich ihn auslebe?
Auch da kenne ich diese Zerrissenheit. „Ist das noch evangelisch?“, frage ich mich da zuweilen. Wenn ein fliegender Pfarrer geweihtes Wasser vertreibt, oder ein Mähdrescher Bonnke durch Westafrika tourt, wenn in Nordirland nun rund um den Brexit die Protestanten und die Katholiken lang verscharrte Kriegsbeile ausgraben … das ist einfach nicht meins. Da kann ich nicht mitgehen. Und da bin ich versucht, nicht nur mich, sondern auch meinen Glauben abzugrenzen. Das ist in meinen Augen nicht mehr das, was ich unter „evangelisch“ verstehe. Manchmal sogar unter „christlich“.
Ich kann verstehen, wenn auch meine Art für Menschen zuweilen nicht mehr in das passt, was sie sich für die Kirche und den Glauben wünschen. Ich gehe eher selten in den Sonntagmorgen-Gottesdienst. Ich kann mich in dieser Veranstaltung häufig nicht wiederfinden. Ich bin extrem offen, wenn es darum geht, wer welche Andacht hält. Ich bin kirchlichen Traditionen gegenüber eher kritisch und frage danach, welchen Sinn sie im Leben der Menschen im Jahr 2020 haben. Ich befolge keine christlichen Regeln, deren Sinn ich nicht verstehe, nur um der Regel willen. Ich frage nach dem Sinn, nach dem Grund und will es verstehen, nicht einfach nur glauben.
Paulus hatte genau diese Momente im Blick. Die Zerrissenheit, die zuweilen quer durch die Menschen, aber auch durch die Gemeinden ging. Und da trifft mich sein Text ins Mark. Wer bin ich denn, zu entscheiden, was dazugehört, und was nicht? Pfarrer, die so predigen als hätten wir 1614 und Luther wäre eben noch durch die Kirche gelaufen, Theologen, die ihre Wissenschaftlichkeit durch Zitate in Hebräisch in ihre Texte einfließen lassen, Andachten, in denen Gott nur noch am Rand oder gar nicht mehr vorkommt.
Wer bin ich, dass ich urteile? Und doch, zuweilen zerreißt es mich. Und dann muss ich mir die gleiche Frage stellen, wie bei den Nazis: Was würde aus mir werden, wenn ich diese Intoleranz zuließe?

Vielleicht geht es der einen oder dem anderen von euch ja genauso.

Nun komme ich auf meine Kirche zurück:
Wir evangelische Christen sind alle sehr unterschiedlich. Ganz ehrlich, mein Ziel wäre nicht der berühmte Filmdialog:

Brian: „Ihr seid alle Individuen!“
Volk im Chor: „Ja, wir sind alle Individuen!“
Brian: „Und ihr seid alle völlig verschieden!“
Volk im Chor: „Ja, wir sind alle völlig verschieden!“
Einer: „Ich nicht!“

Wir sind unterschiedlich und diese Unterschiedlichkeit kann zwei Seiten haben:
Sie kann unsere Schwäche sein: „Evangelisch– was ist das schon? Stellen Sie da doch mal eine Frage und Sie bekommen drei Antworten.“ Da wir ohne Papst leben dürfen, der uns sagt, was richtig und falsch ist, sind wir in der Tat recht verschieden. Eine einheitliche Außendarstellung gibt es bei uns nicht. Das ist für die tolle Arbeit, die wir leisten, zuweilen schlecht.
Und wenn wir uns gegenseitig dadurch definieren, dass wir eben nicht die anderen sind. Ja die, die da in der Landeskirche, die sind ja so … Und wenn ich an die da, bei den Freikirchen denke, dann … Schnell machen wir einander gegenseitig und uns selbst ob unserer Unterschiedlichkeit das Leben schwer.
Die Jugendlichen wissen ja gar nicht mehr was …, wenn ich schon diese alten Lieder …, was soll denn das mit Glauben zu tun … Wir sind gerne bereit, in unsere Unterschiedlichkeit auch noch Grenzen zu ziehen, mit Stacheldraht und Mauer.

Unterschiedlichkeit kann aber auch eine Stärke sein:

Ja, wir sind unterschiedlich, genauso wie die Menschen, mit denen wir leben und arbeiten. Stellt euch doch mal vor, wir würden alle das Gleiche tun. Was würde aus den Menschen werden, die dann an diesem einen Angebot nicht andocken können. Das Leben, die Menschen, unsere Gesellschaft braucht nicht eine christliche Arbeitsweise sondern viele. Immer da, wo Gott uns hinstellt.
Weil die Ringgemeinschaft aus so unterschiedlichen Leuten bestand, hat es zum Schluss einer geschafft das Richtige zu erreichen, auch weil er es eben nicht selber getan hat.
Und auch was unseren Glauben angeht: Es gibt nicht die richtige Antwort darauf, wie korrekt zu glauben ist. Zumindest habe ich sie noch nicht gefunden. Was genau Glaube heißt, wie jeder und jede von uns seine und ihre Beziehung zu Gott pflegt, das ist so individuell wie wir nun mal sind. Wir sind viele und das ist ein Vorteil.
Meine feste Überzeugung ist, dass Gott uns in diese Welt gestellt hat, mit unterschiedlichen Gaben und Fähigkeiten. Dass er einen Platz für uns hat in seinem Werk. Wer bin ich, das beurteilen zu wollen?
Ich wünsche mir für uns und unser Engagement für unseren Glauben eine Überzeugung:

Wir arbeiten in Anerkennung der anderen. Wir sind alle anders, genauso wie das Leben.
Wir arbeiten in Respekt vor der Arbeit der anderen. Christliche Arbeit mit Menschen ist anders, genauso wie die Menschen, mit denen wir arbeiten.
Und ich bin mir aber leider genauso sicher, eine solche Überzeugung bleibt nicht unangefochten und ist keine leichte, sondern wir müssen immer wieder um sie ringen und uns das bewusst machen, was Paulus uns sagt: Ihr aber seid der Leib Christi und jeder Einzelne ein Glied.

Malte Hausmann